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Bild: Gargoyle auf dem Turm von Notre Dame, Paris, Gemeinfrei via pixabay
von Niki Vogt
Diese Wasserspeier wirken zwar verstörend — waren aber die Gehilfen Gottes mit einer klaren Aufgabe
Die Wasserspeier – im Englischen „Gargoyls“ – erscheinen uns heute als schaurige Ungeheuer und ein Gruseleffekt mittelalterlicher Architektur. Das Wort “Gargoyle” kommt aus dem Altfranzösischen „gargouille“ und heißt “Kehle” … und genau das ist ihr Zweck: Aus den scheußlichen Mäulern strömt Regenwasser im vollen Strahl über die Dächer von Gebäuden, vornehmlich Kirchen, die noch aus der Zeit eher erhalten blieben, als profane Bauten.
Diese glupschäugigen Alptraum-Bestien, die sich an den alten Kathedralen festklammern hatten einen klaren Auftrag: die Regenfluten möglichst weit weg von den Mauern zu schleudern, aber hatten auch einen Nebeneffekt: Den Sündern auf der Straße den Schrecken vor der Hölle und ihren grausigen Kreaturen einzujagen. Eine drastische Art, die Leute zum Wohlverhalten zu erziehen. Gleichzeitig symbolisierten sie die Wachhunde, die die heiligen Räume schützen sollen.
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Ist das nicht verblüffend? Da hat jemand dieses Thema unbewusst und intuitiv genau verstanden. Und ein KI-Bild auf pixabay gestellt. Der lebende Gargoyle über der Stadt.
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Batman – ein Erbe der Gargoyles?
Aber nicht alle Steinmonster die an Häusern und Torbögen sind Wasserspeier. Sie sind oft seltsame Mischwesen Raubvogelköpfe auf Ziegenkörpern, Löwen mit Reptilienkopf … das sind die berühmten Chimären, wie sie in Paris über den Dächern an den Türmen von Notre Dame herunter auf die Stadt schauen, als wollten sie jeden Moment riesige Fledermausschwingen ausbreiten und sich auf die Menschen stürzen, die Böses tun.
Das Prinzip des Ungeheuers, das sich auf schlechte Menschen stürzen darf, weil der Schutz Gottes ihnen entzogen wurde, finden wir auch in der heutigen, urban-finsteren Saga des „Batman“, des Fledermausmannes, der sich aus der Höhe in die Tiefe der Straßen schwingt, wie ein riesiger, geflügelter Vampir und Rächer. Und auch er hat einen diabolischen Endgegner: Den teuflischen Joker Diese finsteren Wesen passen alle in den Typ des unheimlichen Rächers, Dracula und Batman, Darth Vader oder die Gargoyles. Es sind die Wesen der Finsternis.
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Bild: Erzengel Michael tötet den Drachen. Creative-Commons-Lizenz CC0 1.0
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Sie sind viel älter als das Christentum
Der Erzengel Michael steht in vielen alten Städten auf dem zentralen Marktplatz als Brunnenfigur. In voller Rüstung, Schild und Schwert (oder Lanze) kämpft er mit einem solchen Drachen und zwingt ihn zu Boden. Der Drachen soll den Teufel symbolisieren, geht aber auf eine weit ältere Geschichte zurück. Die christliche Kirche hat dazu eine uralte, germanische Endzeitvision, in der Edda überliefert, umgedichtet. Erst war es der heilige Sankt Georg, den man den Germanen damals anstelle von Thor den „bösen Drachen“ – sprich den Teufel – vernichten ließ.
In heidnischer Zeit hieß der Drache Midgardsschlange (altnord.: Miðgarðsormr) oder Jörmungandr. Sie ist (zusammen mit dem Fenriswolf und und der Unterweltgöttin Hel) ein Symbol für Chaos und Zerstörung, die die Ordnung der Welt bedrohen und das Weltende herbeiführen. Wenn die Welt der Germanen den Weissagungen zufolge beim „Ragnarök“ untergeht, muss die Midgardsschlange einen Kampf auf Leben und Tod mit dem heidnischen Gott Thor ausfechten. Thor werde die riesige, drachenartige Schlange zwar besiegen, aber an ihrem Gift sterben.
Diese Mythen waren ein zentraler Punkt in der germanischen Mythologie und daher kaum auszurotten. Was bot sich da besser an, als die Besetzung der Rollen beim alten zu belassen und einfach die Darsteller auszutauschen? Thor wurde erst der heilige Georg und dann zum Erzengel Michael befördert, sowie der Miðgarðsormr zum Satan selbst avancierte. Hauptsache das Volk fürchtete das Vieh.
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Bild: Thor im Kampf gegen die Midgardsschlange im Hintergrund brennt Asgard:
Bild gemeinfrei via Wikipedia
Bild gemeinfrei via Wikipedia
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Die Kirche trickste mit allen Mitteln – Gargoyles und Christus als Superheld
Papst Gregor selbst sagte ja “zerstöre das Idol, reinige den Tempel und lasse die Menschen sich weiterhin dort versammeln, ändere einfach die Gästeliste” und solange Jesus drinnen Hausherr war, durften die alten mythologischen Gestalten sich gern draußen tummeln und sich fürchten. Und so entstand dieser Baustil mit Gargoyles als Wasserspeier und Kinderschreck, grüne Männer oder Wilde Männer (habe zu diesem Themenkreis einen Artikel geschrieben) und barbusige Frauen. Früher als Fruchtbarkeitsidole, später als Abschreckung.
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Die Bemühungen der Kirche, in Europa das Christentum zu etablieren waren lange nicht von Erfolg gekrönt. Die Männer, ob Germanen oder später die Vikinger konnte man kaum dazu bringen, einen Mann als Gottes Sohn anzubeten, der sich ohne jede Gegenwehr ans Kreuz nageln ließ und da – in ihren Augen – jämmerlich starb. Das passte überhaupt nicht in ihr Männerbild vom todesverachtenden Kämpfer und Held. Also brauchte Jesus Christus ein Facelifting: Die Heliand-Sage wurde gestrickt.
Der „Heliand „ist ein altsächsischer Epos aus dem Mittelalter. Diese Geschichte gehört zu den germanischen Heldensagen. Sie ist einzuordnen zwischen den Überlieferungen von Odin, Baldur und Iason mit seinen Argonauten (ursprünglich germanisch). Die Argonauten des Heliand sind die zwölf Apostel. Die Wortherkunft „Heliand“ bezieht sich auf den Heiland, Messias, Jesus Christus.Als Vorlage für den Heldenepos dient die germanische Vorstellungswelt und Literatur. Wieso vermischte man das Jesusbild mit dem Germanentum ? Die Missionierung der Sachsen geschah im Wesentlichen durch die Bischöfe. Das Reich wurde wurde in Bistümer und Fürstentümer verwaltet. Eine neue Rechtsordnung war die Folge (Sachsenspiegel 1220). Das Christentum wurde zur Staatsreligion erklärt. Die neue Staatsreligion musste ins Deutsche übersetzt werden. Für die Akzeptanz der neuen Religion unter den Asen (Sakar, Sassen, Sachsen) bediente man sich bewährter germanischer Überlieferungen. Jesus als Zentrum und “Held“ der Religion sollte einen germanischen Nimbus bekommen. Das Evangelium wurde um diesen Nimbus herum gebaut. In der Wulfilabibel (der Wolf im Schafspelz) kamen die Apostelgeschichten noch nicht vor. Entstanden die Apostelgeschichten, als einzige Quellen für das Wirken Jesu, erst durch den Heliand ?
Diese Saga war so elaboriert, dass man sie tatsächlich als die zweitwichtigste Heldendichtung neben dem Nibelungenlied bezeichnen kann.
Wenn Du, lieber Leser, nun an einer alten Kathedrale diese Wasserspeier siehst, dann weißt Du jetzt, welche Ebenen und Schwingungen aus alter Zeit als Nachhall in modernen Geschichten dahinter liegen. Diese seltsamen Kreaturen haben viel gesehen und trotzdem überlebt. Sie erzählen Geschichten. Sie spielen mit tief unter modernem Leben verschütteten Erinnerungen, Residuen aus unserer Vorzeit von mehr als zweitausend und noch viel mehr Jahren. Vielleicht verstehst Du ein bisschen mehr, was die Dinge um Dich herum bedeuten, warum vieles, was man einfach gewohnt ist und sich keine Gedanken darüber macht, doch eine Saite zum Klingen bringt: Warum es so viele Dorfwirtshäuser „zum wilden Mann“ gibt, warum wir einen Weihnachtsbaum haben, warum die Muttergottes immer ein weißes Kleid und einen blauen Mantel trägt und wovon das uralte Märchen „Frau Holle“ erzählt. Und wieso Ampeln immer und überall rot, gelb und grün zeigen. Warum nicht Pink, weiß und blau?