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Von JURY TAVROVSKY
Ein „kaiserliches“ Bankett für den Patriarchen in Peking
Der Aufenthalt Henry Kissingers im Reich der Mitte lieferte zuletzt die eindrucksvollsten Momente in den amerikanisch-chinesischen Beziehungen im 21. Jahrhundert. Die wichtigsten Persönlichkeiten der Pekinger Führung, darunter Xi Jinping, trafen mit Kissinger zusammen. Über den Inhalt der Gespräche lassen sich nur Vermutungen anstellen, obwohl in naher Zukunft von beiden Seiten gewisse Details gegebenenfalls durchsickern könnten.
Umso weniger waren die ganz bewusst angelegten besonderen Zeremonien, die den Besuch des hundertjährigen Diplomaten umrahmten, unübersehbar: Im Staatsgästehaus Diaoyutai wurde ein noch nie dagewesenes Bankett im kaiserlichen Stil gegeben, dass amerikanischen, sowjetischen oder russischen Staatsoberhäuptern in dieser Form noch nie zuteil geworden ist. Bronze aus dem Haushalt des Qianlong, dem berühmten vierten Kaiser (1711 – 1799) der Qing-Dynastie, besonders symbolhafte Dekorationen wie ein riesiger Pfirsich für Langlebigkeit, Tischkompositionen in Form von Kiefern, Kranichen und stilisierten Hieroglyphen ähnlicher Bedeutung, ganz zu schweigen von dem exquisiten Palastmenü, erhoben die riesige Tafel zu einer perfekten Demonstration auch gastronomischer Diplomatie. Nicht ohne Grund wurde vor dem Bankett ein beispielsloser Videodreh organisiert, der in chinesischen und ausländischen Netzwerken viral ging.
Xi Jinping wandte sich an Kissinger mit den Worten: „In 100 Jahren Ihres Lebens haben Sie China 100 Mal besucht!“ Damit hob er seinen Gesprächspartner aus der Hierarchie der zeitgenössischen politischen Persönlichkeiten heraus und beförderte ihn in die Reihe „Unsterblicher“, die im Reich der Mitte größte Verehrung genießen.
Bidens oder Trumps, Blinkens oder Yellens kommen und gehen. Man kann sie ignorieren, wie den aktuellen US-Präsidenten und seinen Verteidigungsminister. Sie können kurz zu Audienzen vorgelassen werden, wie Blinken und Yellen. Doch Peking hat schon erkannt, dass es mit den Figuren der derzeitigen US-Regierung nichts Ernsthaftes zu besprechen gibt: Sie sind kurzsichtig und mit einem Horizont behaftet, der nur auf die Amtszeit des Präsidenten ausgelegt ist.
Kissinger repräsentiert ein ganz anderes Kaliber. Er wurde immer mit ernsthaften Persönlichkeiten und Kräften in Verbindung gebracht, die in der Lage waren unerwartete Einsichten und weitreichende Handlungen zu setzen. Kissinger half Präsident Richard Nixon bei der Umsetzung der ursprünglich noch vagen Idee, die Beziehungen zur VR China zu normalisieren, um den Widerstand gegen die UdSSR zu verstärken.
Kissingers geheime Reise nach Peking im Jahr 1971 ermöglichte im darauffolgenden Jahr ein Treffen zwischen Richard Nixon und Mao Zedong, das letztlich den Lauf der Geschichte des 20. Jahrhunderts veränderte. Die Tumulte der Kulturrevolution, das Abdriften und der Tod von Mao Zedong vermochten die Formalisierung der chinesisch-amerikanischen „Vernunftehe“ nur zu verzögern. Sie wurde 1979 unter Präsident Jimmy Carter vollzogen, als Deng Xiaoping Washington besuchte. Sein Vorschlag, eine „weltweite Anti-Hegemonialfront“ zu bilden, sicherte die antisowjetische Partnerschaft zwischen der VR China und den USA über viele Jahrzehnte. Die Hinwendung Chinas zum Westen zwang Moskau, sich auf einen Zweifrontenkrieg einzustellen und war einer der Gründe für den Niedergang und den Zusammenbruch der Sowjetunion.
Der fulminante Erfolg des „Sozialismus mit chinesischen Merkmalen“ ermöglichte es China, die wirtschaftliche Kluft zum Westen zu schließen und warf zugleich die Frage nach einem Rollentausch besagter „Vernunftehe“ auf. Im Jahr 2009 schlug Präsident Barack Obama Peking vor, auf fast gleicher Augenhöhe mit Washington die Welt zu regieren und an einem G2-Konstrukt teilzunehmen. Doch genau dieses „fast“ war für Präsident Hu Jintao nicht hinnehmbar.
Sein Nachfolger Xi Jinping unterbreitete gleich zu Beginn seiner Amtszeit den Amerikanern ein Gegenangebot. Doch zuvor noch reiste Xi im März 2013 nach Moskau und stellte ein persönliches Verhältnis zu Wladimir Putin her. Mit diesem Trumpf in der Hand reiste Xi Jinping darauf zu seinem Treffen mit Barack Obama und schlug vor, „eine Art neuer Großmachtbeziehung“ einzuschlagen. Diese erste strategische Initiative des chinesischen Staatschefs sah eine völlige Gleichstellung zwischen Peking und Washington vor, doch schien den Amerikanern nicht akzeptabel. Seither nahm die US-Abschreckungspolitik gegen Chinas kontinuierlich zu und mündete unter Präsident Donald Trump schließlich in die Phase eines ausgewachsenen Kalten Krieges.
Der Handelskrieg, der im Jahr 2018 eröffnet wurde, fiel mit der CoV-Pandemie zusammen. Zu diesen „schwarzen Schwänen“ für Peking gesellten sich noch eine technologische Blockade, eine „Farbrevolution“ in Hongkong und Unruhen in Xinjiang.
Der lang bestehende friedliche und beidseitig vorteilhafte „Status quo“ in den Beziehungen Chinas zu seiner rebellischen Provinz Taiwan wurde von den USA unterlaufen, indem sie ihre Waffenlieferungen nach Taiwan ausweiteten und die separatistische Regierungspartei ermutigten, sich endgültig von China loszusagen. Der von Trump angezettelte und von Biden verschärfte Kalte Krieg hat sich nachteilig auf die Entwicklung Chinas ausgewirkt. Aber er hat das Reich der Mitte nicht vom Aufwärtstrend der „großen Renaissance der chinesischen Nation“, welche Xi Jinping initiiert hatte, abbringen lassen. Doch, der Kleinkrieg mit China hat auch Probleme in den USA selbst verursacht.
Die Notwendigkeit zur konstruktiverem Verhalten anlässlich der bevorstehenden Präsidentschaftswahlen zwingt die Regierung Biden dazu, nach einer Art Kompromiss mit China zu suchen. Daher der US-Wunsch Außenminister Blinken, Finanzministerin Yellen, den Sonderbeauftragten für Klimawandel Kerry oder Handelsminister Raimondo nach Peking zu entsenden. Diese Gäste wurden willkommen geheißen, aber ohne die vormalige Herzlichkeit, denn sie sollen die bilateralen Beziehungen lediglich auf den Stand der Gespräche vom vergangenen November zwischen Xi Jinping und Biden auf Bali zurückbringen.
Die Kontakte in solche Richtung wurden von Gegnern der Entspannung über den „Skandal“ mit den „großen weißen Ballon“ vereitelt. Die chinesische Verärgerung ging so weit, dass Xi Jinping sich weigerte, mit Biden in telefonischen Kontakt zu treten. Dank der Besuche hochrangiger Offizieller der US-Administration in Peking zeichnet sich nun die Aussicht auf ein neues Treffen ab. Sollten die nächsten „schwarzen Schwäne“ oder „Elefanten im Porzellanladen“ ausbleiben, würden die beiden Regierungschefs auf dem G20-Gipfel in Neu-Delhi oder auf dem APEC-Gipfel in San Francisco wieder aufeinandertreffen. Doch selbst mehr oder weniger annehmbare Ergebnisse eines dann realisierten Dialogs lassen keinen Durchbruch erwarten: Das Maximum wäre, Zusammenstöße in der Region Taiwan zu verhindern und das derzeitige Niveau der Konfrontation bis zum 5. November 2024 weiter unter Kontrolle zu halten.
Die bevorstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA bieten Washington und Peking die Gelegenheit, wenn nicht ein neues Kapitel, so doch zumindest eine neue Seite in ihren Beziehungen aufzuschlagen. Darum ging es höchstwahrscheinlich bei Kissingers Treffen im Gefolge des „kaiserlichen“ Banketts. Vielleicht legte er etwas Ähnliches, wie jene Initiative vor, die einen Ausweg aus der amerikanisch-chinesischen Sackgasse nach den 50er und 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts ermöglicht hatte?
Zum Beispiel durch eine erneute „Übergabe“ Taiwans unter dem Vorwand eines Wahlsieges der Kuomintang-Partei bei den Präsidentschaftswahlen Anfang 2024, welche die chinesische Einheit favorisiert. Oder durch Aufhebung der Strafzölle auf Exporte aus China, die Trump 2018 eingeführt hatte. Oder durch ein anderes „Zugeständnis“, das die bilateralen Beziehungen tatsächlich auf den Stand von 2013 zurückbrächte. Die damals von Xi Jinping vorgeschlagene Idee einer „neuen Großmachtbeziehung“ unter neuen Bedingungen, könnte sowohl den USA wie auch China entgegenkommen: In einer neuen, starken Position könnte es sich Peking leisten, friedlich und zukunftsorientiert zu agieren, vorausgesetzt, dass die Grundsätze der Gleichberechtigung und des Respekts gegenseitiger Interessen gewahrt blieben.
Xi Jinping verfügt heute, wie seinerzeit Mao Zedong, über genügend Macht und Autorität, um das Steuerrad der Politik drastisch herumzureißen. Kissingers Initiativen könnten sowohl Washington als auch Peking helfen, einen „Königsweg“ zu finden, um die gesammelten Widersprüche zu überwinden.
Zugleich stellt sich die Frage nach dem Platz Moskaus im Kalkül von Insidern aus Washington. Eine Lösung der bilateralen Probleme auf Russlands Kosten scheint äußerst unwahrscheinlich. Chinas derzeitige starke Position in der Welt und seinen Beziehungen zu den USA ist weitgehend auf die neuen chinesisch-russischen Beziehungen zurückzuführen. Dies ist die Verwirklichung der Strategie der „neuen Großmachtbeziehungen“. Trotz der Tatsache, dass Chinas Wirtschaft zehnmal größer ist als die Russlands, sind die Beziehungen zwischen Peking und Moskau in der Tat gleichberechtigt und zum gegenseitigen Nutzen, ohne jegliche Anzeichen einer Einmischung in die Angelegenheiten des jeweils anderen. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass Washington die Gleichberechtigung mit Peking anerkennen wollte, würden die russisch-chinesischen Beziehungen notwendig bleiben, um das Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. China und Russland werden den Kurs ihrer strategischen Partnerschaft und der militärischen Annäherung weiterverfolgen. Dieser Kurs liegt im nationalen Interesse der beiden benachbarten Mächte und stärkt ihre Position in der Welt gleichermaßen.
Übersetzung aus dem Russischen – UNSER-MITTELEUROPA