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von Matthias Keilich
In Deutschland wird die Angst vor einer Überlastung der Intensivstationen durch Covid-19-Patienten geschürt — eine genaue Analyse der Zahlen gibt jedoch Entwarnung.
Man kommt nicht mehr umhin, die vermeintlich steigenden Fallzahlen der Corona-Erkrankungen und der sich langsam füllenden Intensivstationen wahrzunehmen. Bisher konnte man sich noch gut beruhigen, dass es doch gar nicht so schlimm werden würde; jetzt aber sehen wir täglich Grafiken, die uns zeigen, wie schlimm die Belastung des Gesundheitswesens zu sein scheint oder zumindest innerhalb der nächsten Wochen zu werden droht.
Quelle: links: n-tv Landkarte (Stand: 31. Oktober 2020), ; rechts: Anzahl gemeldeter intensivmedizinisch behandelter COVID-19-Fälle (Stand: 31. Oktober 2020).
Wenn man solche Bilder sieht, wird es einem verständlicherweise angst und bange: Deutschland tiefrot hinsichtlich der 7-Tages-Inzidenz der Corona-Neuerkrankungen, und nach einem anfänglichen Peak steigt die Zahl der gemeldeten intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Patienten wieder dramatisch an.
Was wurde hier gemacht? Es wurde eine Erkrankung zusammenhanglos dargestellt. Durch die beiden Grafiken erhalten Sie keine Zusatzinformationen und können somit ein wertmäßiges Ergebnis nicht bewerten.
Was sehen Sie auf der folgenden Grafik? Eine deutliche Zunahme von irgendetwas, in diesem Fall von einer beliebigen Erkrankung.
Quelle: eigene Darstellung
Was sagt Ihnen diese Grafik aus? Erst einmal sagt die Grafik nur aus, dass die Erkrankung X am Anfang kaum vorhanden war, dann massiv angestiegen ist, anschließend wieder deutlich, auf das Ausgangsniveau, abgefallen ist und aktuell wieder deutlich ansteigt. Das ist die wertmäßige Beschreibung des Zustanden. Mehr Informationen können daraus nicht abgeleitet werden. Eine Bewertung dieser Grafik keinesfalls möglich. Hierzu bedarf es Referenzgrößen, weitergehende Informationen, Verhältnisse. Ob es schlimm ist, dass die Erkrankung wieder zunimmt, ob es zu erwarten war, ob es gar zu einer Katastrophe führen wird, kann nicht daraus abgelesen werden. Diese Fragen stellen bewertende Ergebnisse dar, für die es weitergehende Informationen bedarf, in diesem Beispiel Schwere der Erkrankung, Kapazitäten, die durch die Erkrankung benötigt werden und weitere. Seit Anfang des Coronaausbruchs, Anfang des Jahres, unterbleibt jedoch mit konsequenter Penetranz genau diese Bewertung eines wertmäßigen Ergebnisses in der allgemeinen Presse.
Wird beispielsweise die Erkrankung X im Zusammenhang mit anderen Parametern, in diesem Fall im Zusammenhang mit anderen Erkrankungen, dargestellt, so ergibt sich möglicherweise schon ein ganz anderes Bild.
Quelle: eigene Darstellung
Hier sehen wir das zuvor bekannte Bild; die gelbe Krankheit — Krankheit 3 — scheint deutlich zuzunehmen. Es wird schon etwas klarer, aber noch nicht ganz ersichtlich, dass es sich lediglich um eine Verschiebung, aber keine echte Zunahme handelt. Wenn wir die Erkrankungen einmal stapeln, sodass alle Erkrankungen zusammen 100 Prozent der Krankheiten ergeben, dann wird uns plötzlich etwas ganz deutlich:
Quelle: eigene Darstellung
Krankheit 3 nimmt zwar im Verlauf der Zeit deutlich zu, aber insgesamt bleibt die Anzahl der Krankheiten gleich, es findet lediglich eine Verschiebung der Krankheiten statt, eine Umklassifizierung möglicherweise. Das, was bisher in der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten (ICD) als Infekt der oberen Atemwege (ICD-10 Code J06.9) bezeichnet und klassifiziert wurde, ist nunmehr die COVID-19-Erkrankung (ICD-10 U07.1). Somit kann eine Erkrankung, wenn sie wertmäßig massiv zunimmt, eine ganze Landkarte rot färben, ohne dass das Land tatsächlich rot wird.
Wie verhält es sich nun mit den Intensivbetten der ersten Grafik, die die Belegung mit COVID-19-Patienten zeigt? Zweifelsohne nimmt die Anzahl der Betten, in denen COVID-19-Patienten auf der Intensivstation behandelt werden, derzeit wieder massiv zu. Hierbei handelt es sich um ein wertmäßiges Ergebnis, die reine Beschreibung einer Zahl.
Quelle: intensivregister.de (Stand: 31. Oktober 2020)
Wenn man dieses wertmäßige Ergebnis aber bewertet, dann wird aus einer vermeintlich roten Landkarte plötzlich eine grüne.
Quelle: intensivregister.de (Stand 02. November 2020)
Wenn man den Anteil der COVID-19-Patienten an der Gesamtzahl der Intensivbetten betrachtet, so sieht das Ergebnis — wie auf der linken Landkarte zu sehen — schon deutlich entspannter aus. Wenn dann noch die freien Intensivbetten hinzugefügt werden, wird aus etwas Rotem — oder in diesem Fall Dunkelblauem — plötzlich etwas Grünes, weniger Erschreckendes, über das man hinsichtlich zukünftiger sinnvoller Strategiemaßnahmen mit Ruhe diskutieren und nachdenken kann.
Wenden wir uns wieder der reinen Darstellung der intensivmedizinisch behandelten COVID-19-Fälle zu. Die erste Frage muss lauten: Worauf bezieht sich die Zahl, das heißt, ist die Grundgesamtheit, die der Grafik zugrunde liegende Zahl der Intensivbetten, vergleichbar? Hier zeigt sich, dass im Laufe der Zeit die Grundgesamtheit zugenommen hat.
Quelle: intensivregister.de (Stand 31. Oktober 2020)
Woran liegt das? Nun, das DIVI-Intensivregister (Datenerfassung zur Anzahl freier Intensivbetten in Deutschland) wurde zu Beginn der Coronazeit neu erstellt. Am Anfang — 20. März 2020 — haben lediglich 317 Bereiche ihre Intensivbetten gemeldet. Am 4. April 2020 hat sich die Zahl bereits auf 1.011 und am 3. August 2020 nochmals auf derzeit insgesamt 1.608 Meldebereiche erhöht.
Quelle: intensivregister.de (Stand 02. November 2020)
Schon alleine deshalb, weil mehr Bereiche ihre Intensivbetten melden, muss es natürlich zu einem Anstieg der Intensivbettenzahl mit einer Erkrankung X kommen, in diesem Fall COVID-19. Das ist nicht verwunderlich.
Wenn man einen Arzt nach der Anzahl der vorhandenen, zu einem bestimmten Zeitpunkt ausgelasteten Behandlungsplätze in seiner Arztpraxis fragt, so erhält man einen absoluten Wert X. Fragt man zu einem späteren Zeitpunkt denselben Arzt erneut und nimmt einen weiteren Arzt hinzu, so erhält man wiederum eine absolute Zahl Y. Im Ergebnis ist X + Y > X, da es natürlich mehr Behandlungsplätze gibt, die ausgelastet sind. Daraus kann aber noch nicht geschlossen werden, dass es zu Engpässen in der Versorgung kommt, weil die neue Gesamtzahl an belegten Behandlungsplätzen natürlich größer sein muss als die ursprüngliche Gesamtzahl.
Nun stellt sich die Frage, wie verhält sich denn die Belegung der aufgestellten Betten bezogen auf COVID-19-Patienten? Überall ist doch zu lesen, dass die Intensivbetten allmählich überbelegt zu sein drohen und es nicht mehr genügend freie Betten gibt. Dieses ist, wie Sie bereits aus der Grafik über die Krankheiten oben gesehen haben, so gar nicht herleitbar. Nur weil möglicherweise mehr COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen behandelt werden — Krankheit 3, gelbe Farbe in der Grafik oben —, ist noch lange nicht gesagt, dass der Balken mit den Gesamterkrankungen größer wird, dass also eine zunehmende Belegung der Intensivbetten zu sehen ist.
Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass Krankheiten, wie oben angesprochen, umklassifiziert werden. Was früher als schwere atypische Lungenentzündung auf einer Intensivstation behandelt wurde, bekommt heute nicht mehr den Stempel „schwere atypische Lungenentzündung“ (blau), sondern den Stempel „COVID-19“ (gelb). Somit ist die blaue Erkrankung um 1 gesunken, gleichzeitig hat die gelbe Erkrankung um 1 zugenommen. +1 — 1 = 0. Unter dem Strich hat sich somit nichts verändert.
Wie sieht es nun aber auf den Intensivstationen aus, wenn man die Betten insgesamt, ohne Differenzierung nach bestimmten Erkrankungen, betrachtet?
Quelle: intensivregister.de (Stand: 02. November 2020)
Zu Beginn, also am 20. März 2020, waren 598 Intensivbetten belegt, was 317 meldende Bereiche mitgeteilt haben. Am 4. April waren 12.110 Intensivbetten belegt und am 3. August 2020 20.866. Beim Aufbau einer Datenbank füllt sich diese naturgemäß mit Zahlen, sodass anfänglich keine validen Aussagen getroffen werden können. Am 20. März 2020 meldete statistisch gesehen 1 Bereich 1,8 belegte Intensivbetten. Aufgrund der zunehmenden meldenden Bereiche und der hierdurch valideren Aussagekraft der Zahlen sollte jedoch nur der Bereich, ab dem die Datenbank scheinbar vollständig und konstant befüllt wird, herangezogen werden. Am 4. April 2020 meldete statistisch betrachtet 1 Bereich 12,0 belegte Intensivbetten und am 3. August 1 Bereich 13,0 belegte Intensivbetten.
Obwohl sich die Anzahl der meldenden Bereiche zwischen dem 4. April 2020 und dem 3. August 2020 von 1.011 auf 1.608 meldende Bereiche um gut 50 Prozent erhöht hat, hat sich die Anzahl der belegten Betten nur um knapp 10 Prozent — von 12,0 auf 13,0 — erhöht. Dies entspricht eher einer normalen Schwankungsbreite, wie das Diagramm zeigt. Keinesfalls aber kann von einer deutlichen Zunahme der belegten Intensivbetten gesprochen werden und schon gar nicht von einem drohenden Zusammenbruch, denn auch diese Zahlen geben keine Auskunft über die Anzahl überhaupt aufgestellter Intensivbetten.
Wenn man sich das Verhältnis der mit COVID-19-Patienten belegten Intensivbetten im Gesamtverhältnis der Intensivbettenzahl ansieht, dann zeigt sich bei nüchterner Betrachtung, dass die Intensivstationen noch meilenweit von einem Kollaps entfernt sind, sich dieser noch nicht einmal abzuzeichnen droht.
Quelle: intensivregister.de (Stand: 02. November 2020)
Entspannter kann eine Intensivsituation kaum sein. Seit Mitte des Jahres und insbesondere seit dem 3. August, seit dem Zeitpunkt, wo alle meldenden Bereiche an das DIVI-Register angeschlossen sind, ist die Belegung der Intensivplätze stabil schwankend um einen Erwartungswert.
Aktuell zeigt sich ein leichter Anstieg der COVID-19-Belegung, was in die beginnende saisonale Zunahme von Infekten der oberen und tiefen Atemwege passt. Ob hierdurch auch die Auslastung der Intensivkapazitäten steigt, darüber kann jedoch keine Aussage getroffen werden. Wahrscheinlicher ist es, dass der Anstieg der COVID-19-Patienten auf den Intensivstationen mit einer Abnahme der häufig auch intensivpflichtig verlaufenden atypischen Pneumonie einhergeht oder andere intensivpflichtige Fälle — Polytraumen nach Unfällen — nicht mehr als solche klassifiziert werden, wenn der Patient SARS-CoV-2-positiv ist, unabhängig von seinen diesbezüglichen Erkrankungssymptomen.