Niki Vogt auf Telegram folgen
von Niki Vogt
Es war ein wildes Wochenende, die Nachrichten überschlugen sich, es wurde gelogen und spekuliert. Russland schien auf dem Weg in einen inneren Krieg, die Söldner-Gruppe Wagner machte sich in einem riesigen Konvoi auf den Weg nach Moskau. Im Westen wurde fälschlicherweise gemeldet, dass Präsident Putin geflohen sei, in Washington knallten die Champagnerkorken. Am gestrigen Sonntag machte sich in Russland Erleichterung breit, in den USA und Großbritannien Enttäuschung. Es gab eine schnelle und intelligente Lösung des Dramas.
Sowohl die USA (und damit auch Großbritannien) als auch Putin selbst sollen von dem Aufstand vorher gewusst haben. Das konnte man auch als Außenstehender schon länger ahnen. Die Lösung dieser brisanten Situation ist typisch für Präsident Putin. Entschlossen, aber besonnen, bog er die ganze Sache ab.
Der Konflikt zwischen Wagner-Führer Prigoschin, Verteidiungsministerium und Armeeführung war lang bekannt
Die Kritik und die Proteste von Jewgenij Prigoschin, dem Führer der Wagner-Gruppe, sind ja nicht neu. Schon lange wettert der Söldnerführer, Oligarch und Koch Putins gegen die Bedingungen, unter denen seine Männer kämpfen. Immer wieder bemängelte er die Ausrüstung, Munitionsmangel, in Gefechte geschickt zu werden, ohne dass eine strategische und taktische Einweisung erfolgte. Er beschwerte sich immer wieder über Ineffektivität und Inkompetenz der Militärführung. Er kritisierte, dass die Armee „mit angezogener Handbremse“ agiere und dadurch die Opferzahlen erhöht. Er warf dem Obersten Befehlshaber der russischen Streitkräfte, Waleri Gerasimov vor, ihn und seine Männer bombardiert zu haben.
Am 5. Mai machte Prigoschin in einer dramatischen Filmszene seiner Wut Luft: Er steht vor Leichen seiner Kämpfer, lässt einen Lichtstrahl seiner Taschenlampe darauf scheinen und sagt „Schoigu, Gerasimov! Wo … ist die Munition ?!? Das Blut ist noch frisch! Sie (die Wagner-Kämpfer) kamen als Freiwillige hierher und sterben, damit ihr wie fette Katzen in Euren Luxusbüros sitzen könnt!“ Zornig macht er sowohl Verteidigungsminister Sergej Schoigu als auch Waleri Gerasimov, Chef des Generalstabs, für „Zehntausende tote Wagner-Kämpfer“ verantwortlich. In einem weiteren Video drohte er bereits an, er werde sicher stellen, dass Schoigu und Gerasimov die Verantwortung für den Tod dieser Zehntausenden vor deren Müttern und Kindern übernehmen müssen.
Der Aufstand war absehbar – hat Putin nichts unternommen?
In einem blitzartigen Handstreich zog Prigoschin am Freitag, den 23. Juni, mit seinen Männern von der Front ab ins russische Hinterland und besetzte die Stadt Rostow am Don. Sein Kommen wurde von den Bürgern begrüßt, die Männer wie Helden gefeiert. Dort traf sich der Führer der Wagner-Gruppe mit zwei Unterhändlern Schoigus und Gerasimovs.
Warum unternahm Präsident Putin nichts? Oder zählte er blind auf seinen ehemalige Koch und guten Freund Progoschin, dass er nicht „von der Fahne gehen“ würde? Tatsächlich hat sich Prigoschin, der in recht derber und aggressiver Sprache schon länger gegen Schoigu und Gerasimov keulte, niemals negativ über Präsident Putin ausgelassen. Im Gegenteil. Das ist auch in dem Gespräch mit den Vertretern des Generalstabes und des Verteidigungsministeriums in Rostow zu spüren. Man sollte allerdings bedenken, dass dieses Gespräch ja gefilmt wurde und alle drei Männer das wussten. Es kann sich also um eine „Fenster-Rede“ handeln, bei der man natürlich nicht ans Eingemachte geht, sondern eine Botschaft nach außen übermitteln will.
Hier ist das Gespräch:
Von den drei Männern im Vordergrund ist der rechte der stellvertretende Generalstabschef Wladimir Alekseev , in der Mitte Wagner-Führer Prigoschin und links der stellvertretende russische Verteidigungsminister Junus-bek Jewkurow, der in der Sache auch zu vermitteln suchte.
Hier erhebt Prigoschin nochmals die Vorwürfe, dass die Wagnerkämpfer, aber auch die Zivilbevölkerung immer wieder von russischem Beschuss getroffen wurde: „Es wurde auf uns geschossen! Wir werden sie alle vernichten … Ihr schießt auf die friedliche Bevölkerung. Gerade jetzt habt ihr einen Bus getroffen und nicht einmal ein schlechtes Gewissen deswegen.“
Nachdem er mit „Du“ angeredet wird, besteht er auf den Respekt, gesiezt zu werden und sagt:
„Wir sind hierher gekommen, um mit Schoigu zu sprechen und mit Dem Hauptkommandeur (Gerasimov). Solange die nicht zu uns hierher kommen, bleiben wir hier, um die Stadt Rosotw „blockieren“ – und dann gehen wir nach Moskau. Wir wollen den Chef des Generalstabs und Schoigu!“
Junus-bek Jewkurow sagt dann etwas, zu verstehen ist nur „Ich bitte Sie sehr …“ und Prigoschin erwidert: „Nein, auf keinen Fall, die Männer bleiben hier, wir stören Sie aber nicht bei Ihren Truppenbewegungen.“ Die Antwort des Militärgesandten ist unverständlich.
Wieder bringt Progoschin das Argument der mangelnden Munitionsversorgung vor: „Die Männer sterben, weil Sie sie ohne Munition, ohne konkrete Planung einfach so in die Gefechte schicken!“
Der stellv. Generalstabschef Wladimir Alekseev wirft Prigoschin vor, dass seine Aktion hier in Kiew die Champagnerkorken knallen lässt und dass die Ukraine Liman zurückerobern konnte, weil die Wagner-Truppe abgehauen sei. Prigoschin erwidert, dass die Wagnertruppe nicht weglaufe, sondern nach Rostow gekommen sei, damit „die Schande für das Land aufhört“. Und er weist Junus-bek Jewkurow zurecht: „Wenn Sie mit uns eine normale Kommunikation betreiben würden, würden wir hier nicht mit Panzern kommen!“ Als daraufhinJewkurow fragt: „Halten Sie das, was Sie hier tun, wirklich für absolut richtig?“ antwortet Prigoschin mit einem entschiedenen „Ja.“
Kurz darauf setzte sich der riesige Wagner Konvoi in Richtung Moskau in Marsch.
Die Wagner-Truppe hat in Russland Heldenstatus
Die Wagner-Kämpfer sind in Russland Legende. Die nach Russland ausgewanderte Journalistin Alina Lipp war in Rostow, als die Wagner-Gruppe dort ankam. Die Bevölkerung feierte ihre Helden mit Wagner-Fahnen, versorgten sie mit Essen und Trinken.
Alina Lipp beschreibt die „Jungs“ der Wagnerkämpfer als sehr höflich, freundlich und offen. Sie erklärten jedem, der fragte, worum es ihnen geht. Die Menschen bedankten sich für ihren Mut und Einsatz. Es kamen auch junge Männer, die sich den Wagner-Söldnern anschließen wollten. Alina Lipp schreibt:
„Die Wagnerkämpfer betonten, dass sie russische Patrioten seien und Putin unterstützten — aber Schoigu und dem Verteidigungsministerium stehen sie mehr als kritisch gegenüber. Schoigu ist in ihren Augen Schuld für viele Fehler, die an der Front gemacht wurden und werden. Sie bestätigten, dass das Verteidigungsministerium tatsächlich den Befehl gegeben hatte, Wagner Positionen unter Beschuss zu nehmen. Verrat spielte eine Rolle. Kurz darauf traf Prigoschin die Entscheidung, nach Rostow zu gehen, um das Schlimmste zu verhindern.“
Einige der Wagnerkämpfer waren sich bewusst, dass es zu Kämpfen mit der regulären Armee kommen könnte und sagten: „Vielleicht leben wir alle morgen nicht mehr“ und drückten ihr Bedauern darüber aus, dass es soweit kommen musste.
Währenddessen arbeitete Präsident Putin an der Lösung dieses Problems, das er offenbar zu lange hatte schwären lassen. Denn, wie gesagt, bekannt war das ja schon länger. Es soll sogar so sein, dass Prigoschin schon eine Weile Waffen und Munition gebunkert haben soll und sowohl die CIA, als auch der russische Geheimdienst, von Prigoschins Plan des Marsches auf Moskau gewusst haben.
Der Prigoschin-Wagner-Aufstand – eine CIA-Aktion?
Der gut vernetzte, investigative Journalist Guido Grandt ist der Meinung, dass der Prigoschin-Putsch durchaus, genau wie der Maidan-Putsch 2014 gegen Janukowitsch und die Sprengung der Nordstream-Pipeline, von der CIA inszeniert worden ist:
„Der entmachtete Präsident Viktor Janukowitsch erklärte dazu, dass die Operation nach dem Treffen mit CIA-Chef Brennan beschlossen worden seien. Diese Vermutung liegt tatsächlich auf der Hand.“
Prigoschin bezieht sich in dem oben wiedergegebenen Gespräch ausschließlich auf die schlechte Armeeführung, die Totenzahlen seiner Männer, Ungerechtigkeit, schlechte Ausstattung und zivile Opfer im Donbass. Es gibt eine regelrechte Kriegserklärung an das russische Verteidigungsministerium, in persona Sergej Schoigu, in der er an diesem 23. Juni den Marsch auf Moskau verbreitete:
Full message of Prigozhi "declaring war on the Russian Ministry of Defence:
"PMC Wagner Commanders’ Council made a decision: the evil brought by the military leadership of the country must be stopped.
They neglect the lives of soldiers. They forgot the word “justice”, and we… pic.twitter.com/1tCXPVn07p
— Dmitri (@wartranslated) June 23, 2023
In dieser „Kriegserklärung“ (die als Originalvideo in den Tweet eingebettet ist) sagt Prigoschin, dass der Rat der Wagner-Kommandeure entschieden habe, das Böse, das die militärische Führung über das Land gebracht hat, gestoppt werden müsse:
„Sie missachten das Leben der Soldaten, Sie haben das Wort „Gerechtigkeit“ vergessen und wir werden es zurückbringen. Diejenigen, die heute das Leben unserer Jungs zerstört haben, die zehntausende von Leben russischer Soldaten zerstört haben, werden bestraft werden. Ich fordere auf: Keiner sollte Widerstand leisten. Alle, die versuchen, Widerstand zu leisten, betrachten wir als Gefahr und werden sie sofort vernichten, einschließlich aller Kontrollstationen auf unserem Weg und alle Flugzeuge, die wir über unseren Köpfen sehen.
Ich fordere jeden auf, ruhig zu bleiben, sich nicht zu Provokationen verleiten zu lassen und im Haus zu bleiben. Am besten sollten diejenigen entlang unseres Weges nicht nach draußen gehen. Sobald wir das, was wir angefangen haben, abgeschlossen haben, werden wir an die Front zurückgehen und unser Mutterland beschützen. Die Autorität des Präsidenten, die Regierung, das Innenministerium, die Nationalgarde und andere Ministerien/Abteilungen werden weiterarbeiten, wie bisher.Wir werden uns mit denen befassen, die russische Soldaten zerstören. Und wir werden an die Front zurückkehren. Die Gerechtigkeit in der Armee wird wiederhergestellt werden. Danach die Gerechtigkeit für ganz Russland.“
Hier wird ausdrücklich nur das Verteidigungsministerium und die Armeeführung benannt und alle anderen Institutionen ausdrücklich ausgenommen. Natürlich ist offen, ob es im Falle des Erfolgs dieser Aktion dabei geblieben wäre. Es wäre ziemlich dumm von Prigoschin gewesen, einen kompletten Umsturz zu annoncieren (falls er den geplant hatte), das wäre im russischen Volk auch nicht gut angekommen.
Putins angeblich „verzweifelte“ Rede, und wie man einen Aufstand geschickt abwürgt
Präsident Putin ist der Nachfolger des Präsidenten Boris Jelzin, dessen „Freundschaft“ mit dem ehemaligen US-Präsidenten Jimmy Carter hauptsächlich auf unbegrenzte Mengen an Whisky beruhte, der Russland von den Amerikanern plündern ließ und dessen eigene Tochter zur Rettung Russlands einen Abgang Jelzins betrieb. Der neue Präsident, Wladimir Putin, war damals Chef des KGB (heute FBU) und ist auch heute noch sehr eng mit dem Geheimdienst verbunden. Man wird nicht KGB-Chef, weil man die Medaille als vorbildlicher Messdiener erworben hat, und man hält sich nicht so lange im Präsidentenamt, wenn man nicht sehr beherrscht, außergewöhnlich intelligent, bestens informiert und hart im Nehmen ist und sehr kühl und geplant vorgeht.
Ob Prigoschin ein enger Vertrauter des Präsidenten war oder noch ist, spielt keine Rolle. Das war einfach zuviel. Kremlchef Putin wusste, dass der Wagner-Anführer etwas plante.
Die eine Möglichkeit wäre gewesen: Präsident Putin hätte ihn im Vorfeld liquidieren lassen können. Das wäre nicht einfach gewesen und auch, wenn es gelungen wäre, wäre es hochriskant. Denn, wie bereits geschrieben, die Wagnertruppe hat in Russland Heldenstatus und es wäre ein Aufschrei durch das russische Volk gegangen.
Präsident Putin musste also abwarten, was Prigoschin tut. Als das klar war, hielt Putin die besagte Rede. Das musste er tun, denn er konnte ja nun nicht ernsthaft dulden, dass ein – noch so verdienter – Söldnerführer einfach in Moskau einmarschiert und da nach Gusto Selbstjustiz übt. Dann kann er gleich abdanken. Präsident Putin musste sich klar dagegen stellen und die desaströsen Folgen aufzeigen, Emotionen wecken, an den Patriotismus appellieren und den Russen klarmachen, worum es letztlich geht. Das tat er sehr beherrscht und ruhig.
Gleichzeitig aber wusste er, dass eine harte Bestrafung der Wagnerkämpfer im Volk überhaupt nicht gut ankommt. Das sind Patrioten, tapfere Männer, Ehemänner, Söhne und Brüder, die einen großen, wenn nicht DEN Beitrag dazu geleistet haben, dass Russland eine sehr gute Position erkämpft hat. Sie haben sich in den Augen der Russen Ruhm erworben.
Also gab es zwei Linien.
Zum Ersten: Die Deeskalation. Über den weißrussischen Präsidenten Lukaschenko wurde Prigoschin und seinen Leuten angeboten, die Strafverfolgung einzustellen, die Wagnerkämpfer können in die russische Armee eintreten oder sich irgendwo anders ungehindert als Söldner verdingen. Prigoschin selbst kann nach Weißrussland ungehindert ausreisen, wo er wahrscheinlich in einer Karriere als Militärberater hinter den Kulissen arbeiten wird, vielleicht sogar in nicht allzuferner Zukunft einen militärischen Rang erhält oder einen eigenen, bewaffneten Geheimdienst. Und er und seine „Jungs“ bleiben unbehelligt am Leben.
Zum Zweiten: Die offene Drohung eines Blutbades. Der tschetschenische Präsident Ramsan Achmatowitsch Kadyrow ist ein verwegener Haudegen und ein treuer Putin-Alliierter. Die Tschetschenen sind gefürchtete Krieger und nicht gerade als rücksichtsvoll und sensibel bekannt. Präsident Kadyrow bot Präsident Putin auch sofort seine Hilfe an, das Problem Prigoschin und Wagner zu lösen und setzte seine die Spezialeinheit „Achmat“ auch schon in Bewegung. Sie hatten den Befehl, (vorerst) kein „Blut zu vergießen“ und wurden gleich am 24. Juni nach Rostow entsandt, aber auf Befehl in bedingungsloser Loyalität zu Präsident Putin die „Wagner-Meuterei“ niederzuschlagen. Daher waren sich die Wagnerkämpfer auch nicht so sicher, ob sie den nächsten Tag überleben würden.
Sagen wir es so: Herrn Prigoschin fiel angesichts dieser Möglichkeiten die Entscheidung relativ leicht.
Präsident Kadyrows Spezialeinheit machte kehrt, die Wagnertruppe machte kehrt, der Aufstand wurde abgesagt. In Kiew und Washington wird der Champagner wieder in den Kühlschrank gestellt Gerasimov und Progoschin sind einfach von der Bildfläche verschwunden. Verteidigungsminister Schoigu soll sich angeblich wieder gezeigt haben, doch es gibt Zweifel an der Aktualität der gezeigten Bilder:
„Russische Militärblogger wiesen wenig später daraufhin, dass das Schoigu-Video ihrer Einschätzung nach noch vor dem Aufstand aufgenommen wurde. So hieß es etwa in dem bekannten Telegram-Kanal „Rybar“, der Clip sei eine „Konserve“. (…) Russische Quellen vermuten laut ISW, Alexei Dyumin, der derzeitige Gouverneur des Gebiets Tula, ehemaliger Sicherheitsoffizier Putins und ehemaliger Leiter der russischen Spezialeinheiten, könnte Schoigu als Verteidigungsminister ablösen.“
So schrieb die FAZ gestern:
„Am vergangenen Wochenende war in Russland ein lange schwelender Machtkampf zwischen der regulären Armee und der privaten Söldner-Gruppe Wagner eskaliert. Unter der Führung ihres Chefs Jewgenij Prigoschin besetzten die Wagner-Söldner am Samstag etwa die südrussische Stadt Rostow am Don und drohten mit einem Marsch auf Moskau. Daraufhin wurden in mehreren Regionen Anti-Terror-Maßnahmen ergriffen.
Am Samstagabend dann beendete Prigoschin seinen Aufstand überraschend wieder, nachdem der belarussische Machthaber Alexandr Lukaschenko vermittelt hatte. Derzeit ist über den genauen Aufenthaltsort Prigoschin nichts bekannt.“
Es bleibt spannend. Der alte Fuchs Putin hat dem ganzen Zauber den Boden entzogen, und ist keineswegs geschwächt. Die Russen atmen auf. Putin hat bewiesen, dass er sehr elegant mit der ganzen Sache umgehen konnte und zu unkonventionelle Lösungen fähig ist.