Afghanistan ist vorbei – aber das Sterben unter den US-Militärs geht weiter – Selbstmorde 4x so hoch wie Gefallene

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von Niki Vogt

Männer sind schlimm und böse. Besonders weiße Männer. Arrogant, selbstsüchtig, unsensibel. Das Bild verfestigt sich in der allgemeinen Wahrnehmung und die meisten Männer schweigen zu dem Blödsinn. Männer beschweren sich selten, stecken viel ein. Aber sie sind sehr wohl sensibel und daher wesentlich selbstmordgefährdeter. Insbesondere Männer, denen man den jahrelangen Einsatz in Kriegsgebieten zugemutet hat. Die USA, immer ganz vornedran, was das Kriegführen im Rest der Welt betrifft, haben ein massives Problem mit der Psyche der Veteranen.

In Afghanistan sind 7.000 US-Soldaten umgekommen, wofür? Dieser zwanzigjährige Krieg hat die amerikanischen Steuerzahler Billionen US-Dollar gekostet, wofür? Hunderttausende Afghanen sind dabei ums Leben gekommen, wofür?

INSIDE ISDas Brown University‘s Watson Institute for Internal and Public Affairs hat einen Bericht erstellt, der die „Kosten des Kriegsprojektes“ (Costs of War Project) auflistet. Vierzehn Billionen Dollar hat das „Afghanistan War Project“ gekostet. Und viele Leben. Unter den amerikanischen Militärs waren es 7.052 in Afghanistan Gefallene und (bisher) 30.177 Militärs, die später Selbstmord begingen, weil sie das Erlebte nicht bewältigen konnten.

Ob Vietnam, Irak oder Afghanistan, diese Einsätze verwunden die Männer psychisch mehr als physisch. Selbst wenn sie körperlich einigermaßen heil nach Hause kommen, die Seele ist oft tödlich verletzt und viele Veteranen setzen ihrem Leben selbst ein Ende. Die Selbstmordrate ist viermal so hoch, wie die Zahl der im Krieg Gefallenen.

Hier möchte ich einmal sehr persönlich schreiben. Das mache ich normalerweise nicht.

Ich hatte Jim, einen wunderbaren Lebensgefährten, mit dem ich 14 Jahre lang zusammenleben durfte. Er war Vietnam-Veteran und starb an Lungenkrebs, wie so viele Vietnam-Teilnehmer. Das Agent Orange, mit dem die Urwälder dort entlaubt wurden, enthielt Dioxin. 20-25 Jahre später sterben die Männer an dem Krebs, den es verursacht (die Irak-Kriegsteilnehmer haben nicht einmal diese Gnade. Die abgereicherte, strahlende Uranmunition erledigt sie noch aggressiver und schneller). Das, was er in Vietnam erlebt hatte, hat ihn für‘s Leben gezeichnet. Er hat einige seiner alten Kameraden und Freunde durch Selbstmord verloren. Ihre Alpträume waren noch tödlicher als das Agent Orange.

IRLMAIERIch weiß, wie diese Männer leiden, ich habe es miterlebt. So sehr, dass sie nicht einmal ausdrücken können. Man kann es schön wissenschaftlich „PTSD“ (Post Traumatic Stress Disorder) nennen, was nichts an dem Zustand ändert. Es gibt Psychologen in der US-Army, zu denen die zerstörten Seelen gehen können. Aber was will der Armeepsychologe denn sagen, wenn jemand die Erinnerung an brennenden Dörfer (ob vom Vietkong oder US-Truppen angezündet) nicht vergessen kann? Die Schreie der Menschen, die Leichen überall, brennende Kinder … den Moment, wo ein Kamerad sich auf der Straße von einem Schuhputzer bedienen ließ und dieser einen Sprengsatz zündet, um sich mit dem US-Soldaten in die Luft zu jagen? Jim hatte das Blut und Fleischfetzen seines Freundes überall auf dem Körper kleben. Ich erspare dem Leser weitere Schilderungen von Gräßlichkeiten.

Einmal wollten wir abends schön essen gehen im Frankfurter Palmengarten. Die zierlichen Tischchen und Gartenstühlchen standen malerisch auf einem Kiesplatz und zwischen den Sitzgrüppchen standen große Büschel von Bambus. So hatte jeder Tisch praktisch seine etwas abgeschlossene Privatheit. Eine hübsche Idee. Nicht für Jim offenbar. Der riesige Jim saß auf dem Metallstühlchen wie ein lauernder Wolf. Seine Augen streifen hin und her, er war blass und vollkommen angespannt. Wenn der Wind im Bambus raschelte, drehte er sich blitzschnell in die Richtung. Die gemurmelten Stimmen hinter den Bambusbüschen irritierten ihn sichtlich und Schritte auf dem Kies ließen ihn zusammenfahren. Auf meine Fragen rückte er damit raus, dass die ganze Szene und die Geräusche ihn (über zwanzig Jahre später) intensiv an einen Vorfall in einem ausgetrockneten Kies-Flussbett in Vietnam erinnerte, wo er mit seinen Leuten in einen Hinterhalt des Vietkong geriet. Erst hörten sie Bambusgeraschel, vereinzelt huschende Schritte auf Kies, hier und da Gemurmel und dann wurden sie aus dem Bambusdickicht abgeschossen wie die Tontauben, sie fanden nirgends Deckung und konnten niemanden sehen. Er hat überlebt, weil er sich auf den Boden warf und den toten Kameraden neben sich auf sich zog. Er blieb liegen, als sei er tot und erst nach einiger Zeit trauten die Männer, sich wieder zu rühren und nachzusehen, wer noch lebte. Nur ein paar hatten es geschafft, keiner blieb unverletzt.
Wir sind dann woanders essen gegangen.

In Frankreich besuchten wir Freunde und gingen abends gemeinsam zu einem Fest am See. Ich zog mein schönes, weißes, langes Leinenkleid an, machte mich schick. Es hatte geregnet, und überall waren Pfützen, aber dafür war es endlich nicht mehr so heiß. Ich hatte vergessen, Jim zu sagen, dass auf dem Einladungsplakat „feu d’artifice“ stand, Feuerwerk. Als es dunkel war, startete die Feuerwerksshow mit einem Kanonenschlag. Bevor ich auch nur wusste, was geschah, riss mich Jim unter einen parkenden Lastwagen und warf sich über mich, um mich zu schützen. Das ging dermaßen schnell, dass ich völlig perplex war – und wenig begeistert, denn ich lag mitten in einer Schlammpfütze. Grandios. Der Abend war gelaufen, aber das Kleid wurde in der Waschmaschine wieder sauber. Ihm war es total peinlich.

Das blödeste, was Jim erlebte war, dass ihm eine Armee-Psychologin, eine komplett unerfahrene Mittzwanzigerin sagte, er solle sich doch keine unnützen Vorwürfe und Gedanken machen, er habe ja auf Befehl hin gehandelt und die USA habe doch Vietnam vor dem Kommunismus zu retten versucht. Er solle doch stolz sein darauf, seinem Land gedient zu haben. Das war nicht wirklich hilfreich. Er sprach selten von diesen Dingen und ich habe nie versucht, ihm Ratschläge zu geben oder ihm Vorschläge zu machen, wie er damit umgehen soll. Weil ich schlicht keine Ahnung habe, was das alles mit einem Menschen macht. Ich konnte es auch überhaupt nicht be- oder verurteilen, mir nicht einmal vorstellen. Ich konnte nur für ihn da sein.

Ein bitterer Spruch der Veteranen als Persiflage auf die Rekrutierungskampagnen der Army lautet: „C‘mon, join the Army! See the world! Meet interesting people! And kill them!“ (Los, komm zur Army, sieh Dir die Welt an! Treffe interessante Leute! Und töte sie!)

Hollywood CodeJim war zum Pazifisten und sehr nachdenklich geworden. Er verdrängte es nicht, wie einige seiner alten Kameraden. Zwei davon wählten eine besondere Art des Selbstmordes: „Suicide by cop“ (Selbstmord durch Polizei). Das kommt immer wieder vor, dass Kriegsveteranen sich eine Waffe schnappen und irgendein Desaster anstellen und die Waffe dann gegen die eintreffende Polizei heben, um erschossen zu werden … um endlich aus ihrer Verzweiflung erlöst zu sein. Der erste „Rambo“ Film greift dieses Thema der sozialen Außenseiter „Veteranen“ auf. Viele der Vietnam-Heimkehrer konnten sich nie wirklich in das zivile Leben wiedereingliedern. Die Mehrheit von ihnen schossen sich entweder mit Alkohol und Drogen ins Vergessen – manche mit einer Kugel. Sei es aus der eigenen Waffe oder aus der eines Polizisten.

Ich könnte jetzt Zahlen und Fakten zitieren. Statements von Fachleuten und Therapeuten. Statistiken. Mich über die US-Kriegspolitik und die des US-Vasallenstaates Deutschland aufregen. Ein Artikel zu dem Thema unter vielen. Wen juckt es.

Aber ich werde lieber eine kleine Geschichte erzählen, sehr unspektakulär und doch so wichtig.

Jim, ein hochausgebilderter Special-Force-Mann, war überzeugter Pazifist geworden. Wenn er wollte, war er mit 1,95 Metern und einem Kreuz, wie ein Scheunentor, ein hochgefährlicher Mann. Sichere Instinkte, blitzschnelle Reaktionen, jede Bewegung gezielt und sicher, Kraft und Schnelligkeit eines Raubtiers. Ich habe ihn in einer Notsituation in Aktion gesehen.

Aber er war ein tief nachdenklicher, gläubiger Mann mit einem riesengroßen Herzen.

 

Wir leben auf dem tiefsten Land. Im Herbst kommen die Mäuse ins Haus, fressen die Vorräte an und verteilen ihre Exkremente im Vorratsschrank. Lebendfallen werden damit nicht fertig. Wir stellten so eine kleine Schnapp-Bügelfalle auf, wie man sie in den großen Supermärkten bekommt. Eines Tages war eine kleine Maus darin gefangen, ihr Rückgrat war gebrochen, aber sie lebte noch. Jim übernahm die Aufgabe, die kleine Maus zu erlösen. Er ging mit ihr in den Garten. Und irgendwie spürte ich, dass er in einer sehr seltsamen Verfassung war.

Ich ging ihm nach und hörte, wie er mit der kleinen Maus sprach. Er bat sie um Verzeihung. Er sagte ihr, dass er sich geschworen hatte, nie wieder ein lebendes Wesen zu töten und zu verletzen. Dass er die Falle bereute. Dass sie ihm vergeben möge, aber dass er nun nichts Besseres für sie tun könne, als ihre das Leid eines qualvollen Sterbens zu ersparen. Er tötete sie und ging dann eine Stunde im Wald herum, bis er wiederkam.

Er hat nicht davon gesprochen und ich habe ihn nie darauf angeredet.

Dieser Beitrag erschien zuerst auf der Webseite „dieUnbestechlichen.com“