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von Niki Vogt
Wir wissen: Es ist heute Mode, die Frauen grundsätzlich als sexuell unterdrückte Opfer zu sehen, Aggressoren sind immer männlich. Der Mann darf alle seine (sexuellen) Wünsche ausleben und wird immer vorgezogen, kann seinen Herrschaftsanspruch ungehindert ausleben.
Das ist aber durchaus nicht so. Ein weitgehend verschwiegenes Kapitel ist zum Beispiel die Beschneidung des Mannes. Die Beschneidung bei Frauen – ein gefährliches, blutiges und grausames Ritual – wird (zu Recht!) überall angeprangert, als archaische und frauenverachtende, brutale, lebensgefährliche und traumatisierende Verstümmelung.
Beschneidung bei Männern wird dagegen allgemein kommentarlos hingenommen. Dass diese alte Praxis nicht weniger auf verklemmten, sexualfeindlichen, archaisch-religiösen Ritualen aufbaut, interessiert nicht. Auch die Männer nehmen es klaglos hin, ja, sind sich nicht einmal bewusst, was ihnen angetan wurde.
Sexuelle und seelische Verstümmelung
Wissenschaftliche Studien haben ergeben, dass der Mann damit sehr wohl eines wichtigen Teils seiner Sexualität beraubt wird. Die landläufige Meinung, das bisschen Haut da vorne sei doch unwichtig und außerdem sei das viel hygienischer, ist ein Irrtum.
Die Beschneidung des Mannes, auch Zirkumzision, ist die chirurgische Entfernung der Vorhaut, eine Hülle, die die Peniseichel schützend umgibt. Diese Haut ist ebenso von vielen Nerven durchzogen, wie der weibliche Kitzler. Die Eichel selbst hat wenige Rezeptoren für Berührung und taktile Reize. Das „Präputium“, also die Vorhaut, ist eine sehr erogene Zone und für ein normales sexuelles Verhalten wichtig.
Im British Journal of Urology erschien im Januar 1999 eine Arbeit über das Präputium mit folgender Einleitung:
Die Vorhaut ist eine gemeinsame anatomische Struktur der männlichen und weiblichen [äußeren Genitalien aller menschlichen und nichtmenschlichen Primaten; Es ist seit mindestens 65 Millionen Jahren bei Primaten vorhanden und wird aufgrund seiner Gemeinsamkeit als anatomisches Merkmal bei Säugetieren wahrscheinlich über 100 Millionen Jahre alt sein. Bestimmte Kulturen beschnitten die Vorhaut von Kindern, um den gesellschaftlichen Standards zu entsprechen, dagegen akzeptierten andere Kulturen die vollständigen äußeren Genitalien als normal. Die Motive für die Beschneidung in Präliteratkulturen (Anm: Kulturen ohne schriftliche Überlieferungen) sind schwer zu definieren, umfassen jedoch Übergangsriten, Blutopfer und kulturelle Markierungen. Die rituelle Genitalchirurgie im Kindesalter ist in den letzten tausend Jahren populär geworden und macht die Vorhaut zur am meisten verunglimpften normalen anatomischen Struktur des menschlichen Körpers. Anstatt die Vorhaut als normale Anatomie anzuerkennen, betrachten einige zeitgenössische Ärzte den Penis und die Klitorisvorhaut (oder Klitorishaube) als gefährlich und ungesund.
Wird das Präputium entfernt, bedeutet das einen enormen Verlust der Empfindsamkeit. Genau das war auch nachweislich der Sinn der Beschneidung, auch in modernen Gesellschaften, wie der USA. Dort empfahlen die (männlichen) Ärzte die Beschneidung als ein Mittel, Lähmungen, Schlaflosigkeit, Verdauungsprobleme, Epilepsie, Wahnsinn, zu häufigen Geschlechtsverkehr, Fremdgehen, Masturbation und Homosexualität vorzubeugen. Keine dieser Zwecke wird durch Beschneidung erreicht.
Ganz im Gegenteil. Die wesentlich weniger sensible Eichel fordert stärkere, mechanische Reizungen, um zur ersehnten Lustlösung zu gelangen. Das fördert die Masturbation und auch derbere Sexualpraktiken, statt das zu eliminieren.
Im Journal of Social History im Jahr 1994 finden wir:
Seit den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts ist die Beschneidung von Neugeborenen die am häufigsten durchgeführte Operation in den Vereinigten Staaten. Tatsächlich war die Operation über Generationen hinweg so alltäglich, dass Ärzte und Eltern sie kaum als Operation betrachteten. Alles weist daraufhin, dass das Verfahren geradezu gedankenlos durchgeführt wurde, als wäre es einfach eine Routine bei der Geburt, wie das Trennen der Nabelschnur eines Kindes. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Amerika jedoch erheblich von Westeuropa und im Übrigen vom Rest der Welt, wo die Beschneidung im Allgemeinen entweder ein religiöses Ritual oder eine seltene medizinische Intervention zur Behandlung bestimmter Krankheiten geblieben ist.
Die Zähmung der männlichen Sexualität im puritanischen Amerika
Die Praxis der selbstverständlichen Vorhautentfernung in den USA beginnt am 09. Februar 1870 in New York. Der Arzt Dr. Lewis A. Sayre wurde von einem Kollegen zu einem kranken, fünfjährigen Jungen gerufen, der völlig verkrampfte und teilweise gelähmte Beine hatte. Es stellte sich heraus, dass er einen schwer entzündeten Penis und Vorhaut hatte, der durch eine sehr starke Vorhautverengung nicht mehr ordentlich urinieren konnte und aufgrund der Entzündung schon beim Berühren der Bettwäsche und der Kleidung ständig eine äußerst schmerzhafte Erektion bewirkte. Dr. Sayre führte das auch auf übertriebene Erregung und Masturbation durch die überempfindliche Vorhaut zurück und nahm eine Beschneidung des Jungen vor. Dessen Zustand sich sofort besserte und er wieder ganz gerade gehen konnte. Auch bei einem anderen Jungen half eine solche Zirkumzision gegen die quälenden Beschwerden einer Phimose (Vorhautverengung), doch immer schwang das peinliche und schamvolle Element der Masturbation mit.
Von da an propagierte Dr. Sayre die Zirkumzision und wollte auch herausgefunden haben, dass dieser Eingriff noch viele andere der oben genannten Störungen heilen könne. Viele Ärzte unterstützten ihn und die Beschneidung der männlichen Säuglinge wurde von da an Standardprogramm. Die Männer nahmen das als so selbstverständlich hin, dass sie auch nicht auf die Idee kamen, ihre sexuellen Probleme könnten etwas damit zu tun haben.
Aus Dänemark, wo man schon immer etwas unbefangener an solche Themen heranging, kommt eine umfangreiche und gut belegte Studie, in der die sexuellen Auswirkungen von Zirkumzisionen untersucht werden. Das Ergebnis belegt, dass diese Praxis viele sexuelle Probleme für die betroffenen Männer – aber auch deren Sexualpartnerinnen mit sich bringt. Die Studie, bei der über 5.000 Männer und Frauen untersucht wurden, fand heraus, dass die Beschneidung mit häufigen Orgasmus-Schwierigkeiten bei Männern und einer Vielzahl sexueller Schwierigkeiten bei Frauen vergesellschaftet ist, insbesondere Orgasmus-Schwierigkeiten, Schwierigkeiten mit der Penetration, schmerzhafter Geschlechtsverkehr und ein „Gefühl der unvollständigen Erfüllung“ der sexuellen Bedürfnisse. Was die auftretenden Orgasmusschwierigkeiten betrifft, zeigte sich ein beträchtlicher statistischer Unterschied zwischen beschnittenen Männern und intakten. Beschnittene berichteten drei mal häufiger über häufig auftretende Orgasmusschwierigkeiten als unbeschnittene Männer.
Frauen gaben an, mehr Freude am Sex mit einem intakten Mann zu haben, weil dieser die körperliche Liebe besser „genießen“ könne und nicht mühsam um seinen Höhepunkt kämpfen müsse.
Die vordergründigen „Gesundheitsvorteile“ verbergen aber nur durchsichtig die dahinterstehende Verurteilung der männlichen Sexualität und Lust. So bemerkt die dänische Studie eingangs gleich:
So wie in einigen muslimischen und afrikanischen Ländern die Beschneidung von Frauen befürwortet wurde, um die Sexualität von Frauen zu kontrollieren, wurde im späten 19. Jahrhundert auch die Beschneidung von Männern in englischsprachigen Ländern eingeführt, um Masturbation zu behandeln und zu verhindern.
Die Wurzeln der symbolischen Männerkastration reichen viel tiefer
Man vergisst aber – wohl aus Unwissen – in der psychologischen und medizinischen Betrachtung, dass es sehr alte Wurzeln für die Figur des archaischen wilden, ungezähmten, sexuell aktiven, fruchtbaren Natur-Mannes gibt, den wir alle aber durchaus kennen: Den heidnischen „Wilden Mann“, den „Grünen Mann“ oder „the green man“ im englischsprachigen Raum.
Heute heißen noch viele Gasthäuser „Zum wilden Mann“, in Großbritannien, vornehmlich Schottland, findet man ihn immer wieder in Kirchen dargestellt. Ganz besonders in der Templerkapelle „Rosslyn Chapel“ ist er fast überall zu sehen. Auf der Webseite der alten Kirche gibt es sogar eine Unterseite „count the Green Men“ und viele Fotos dazu. Er ist die männliche Seite der unbezwingbaren Kraft der Natur. Ranken und Blätter, die aus seinem Mund wachsen symbolisieren das. Im Mittelalter und der frühen Neuzeit gab es kaum ein Bauwerk, das in seinen Verzierungen und Figurinen nicht immer noch den „Grünen Mann“ zeigte. Die Ungezügeltheit, Freiheit, Lebenskraft, Fruchtbarkeit, Stärke und Wildheit des „Grünen Mannes“ wurde vom Christentum mit seinem Ideal der Enthaltsamkeit, als heidnisch und verwerflich und als Unzucht apostrophiert. Alles Zügellose, Körperliche, Animalische widersprach der christlichen Demut. Daher wird maßlosen, übermütigen Lebensäußerungen auch bis heute noch gern das Präfix „Heiden-“ vorangestellt. Das war ein Heidenlärm, wir hatten einen Heidenspaß, Heidenangst … usw.
Es fällt auf, dass der „Wilde Mann“ oder „Grüne Mann“ in den Kirchen und Gebäuden zwar dargestellt wird, aber immer „eingebunden“ in Friese, Säulenkapitellen, Verzierungen an Decken oder Bodenleisten – also immer in einer „eingehegten“ Situation oder gar „gefangen“. Er wird den gläubigen Christenmenschen als „bezwungen“ und zur Mahnung gezeigt.
Der grüne Mann oder wilde Mann ist ein uraltes, mythisches Wesen, das bis in die Steinzeit zurückreicht. Er ist die Essenz des Mannes. Er ist ein Naturwesen, symbolisiert den unbändigen Lebenswillen und die Schöpferkraft der Natur, ihren Überfluss. Die Natur ernährt, schützt und heilt, kann aber auch gefährlich, gewaltsam und aggressiv sein. Es ist eben die ungezähmte Wildheit.
Nicht selten trägt er auch ein Hirschgeweih oder Hörner und ähnelt damit dem römisch/griechischen Gott Satyr oder Pan. Ihm wird das ausgiebige Feiern, Trinken und sexuelle Lüsternheit zugeschrieben. Dieses mythische Wesen ist eines der ältesten der Menschheit. Zusammen mit der Erdmutter Nerthus oder Jörd (keltisch Taillte oder Brigid, finnisch Maan emo, polnisch-litauisch Zemina), sind der Grüne Mann und die Erdmutter wahrscheinlich die ältesten, mythischen Gestalten der Menschheit überhaupt: Der Mann als Beschützer und starker Vater, die Frau als die Hegende und Pflegende und liebende Mutter.
Genau diese „wilden“ Eigenschaften müssen dem Manne in der hypermoralischen, puritanisch-disziplinierten Gesellschaft der Neuzeit „ausgetrieben“ werden. Wir sind heute schon sehr weit gediehen damit. Die Verstümmelung und geistige Kastration des Mannes ist sowohl physisch als auch psychisch auf breiter Front seit Jahrhunderten erfolgreich vorangetrieben worden. So verdienstvoll die Forschung auf dem Gebiet der verborgenen Traumata der beschnittenen Männer ist, so notwendig ist es auch, an dieses, viel tieferliegende Thema heranzugehen und den Mann aus seiner Unterdrückung zu befreien.