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von Nikolas Pravda
Über manche Dinge wird geschwiegen – auch, weil sie vielleicht niemand hören mag. Etwa Inzest und Pädophilie. Enthüllungen über Frankreichs Eliten haben nun eine solche Kraft, dass Schweigen für viele keine Option mehr ist.
Es ist, als hätte es nur einen Funken gebraucht, um eine Explosion herbeizuführen. Frankreich ist wütend, es ist ein Aufstand derer, die bisher geschwiegen haben.
Seit den Enthüllungen der Juristin Camille Kouchner über ihren bekannten Stiefvater brachen im Land zahlreiche Opfer sexualisierter Gewalt ihr Schweigen.
Die mutmaßlichen Täter sind bekannte Persönlichkeiten der Pariser Elite aus Politik und Gesellschaft. Und es geht um nicht weniger als Pädophilie und Inzest, aber auch sexuelle Übergriffe unter Studierenden. Die Vorwürfe kommen mit einer solchen Wucht, dass auch die Regierung nicht mehr die Füße still halten kann.
Vorwürfe gegen Politologen Duhamel: Sexuell übergriffig gegenüber Stiefsohn
Kouchner veröffentlichte im Januar ein Buch – „La Familia grande“ („Die große Familie“) heißt es. Darin wirft sie ihrem Stiefvater und bekannten Pariser Politologen Olivier Duhamel vor, vor über drei Jahrzehnten gegenüber ihrem damals minderjährigen Zwillingsbruder sexuell übergriffig geworden zu sein.
Duhamel war zwar nicht direkt auf die Vorwürfe eingegangen, hatte aber nach deren Bekanntwerden seine Funktionen niedergelegt. Kouchner löste mit ihrer Schilderung eine Debatte über Missbrauch aus, die in Frankreich in ihrer Intensität mit der weltweiten MeToo-Welle vor einigen Jahren vergleichbar ist.
In der Pariser Intellektuellen-Elite sollen die Missbrauchsvorwürfe längst bekannt gewesen sein. Und: Über Jahre dezent ignoriert worden sein. Was folgte, waren weitere Rücktritte – zuletzt nahm der Direktor der Elite-Uni Sciences Po, Frédéric Mion, seinen Hut, nachdem er die Affäre zunächst einfach aussitzen wollte.
Doch am Ende war der Druck wohl zu groß, unter den Studierenden regte sich massiver Protest. Mion hatte zuvor eingeräumt, dass er schon vor Jahren von Vorwürfen gegen Duhamel erfahren hatte.
Die Enthüllung beendete die Spitzenkarriere Duhamels schneller, als der Hollywood-Produzent Harvey Weinstein im Jahr 2017 zu Fall gekommen war.
Doch niemand beschuldigte Duhamel offen, niemand reichte Klage gegen ihn ein. Auch der vergewaltigte Stiefsohn wollte die Sache auf sich beruhen lassen. Er sträubte sich allerdings nicht gegen das Buch seiner Schwester.
Die Zwillinge sind Kinder des früheren Außenministers Bernard Kouchner, bekannt geworden als Gründer der „Ärzte ohne Grenzen“. Er wusste, wie so viele, vom Treiben Duhamels, aber er soll nur einmal gesagt haben, er werde ihm „die Fresse polieren“, wenn sich ihre Wege jemals kreuzen sollten. Auch die Mutter Evelyne Pisier wollte nicht, dass das Sexualverhalten ihres neuen Gatten Duhamel in die Medien gelangte.
Vielleicht hatte sie selber Schuldgefühle, da sie in der familiären Sommervilla am Mittelmeer selber höchst freizügigen Sitten gehuldigt hatte. „La familia grande“, auf die der Buchtitel anspielt, war auch jene „gauche caviar“ – am treffendsten wohl mit der Bezeichnung Salonlinke zu übersetzen –, die aus dem Mai 68 hervorgegangen war und aus dem Katholizismus der de Gaulle-Ära ausgebrochen war. Die Anwältin Camille Kouchner schildert, wie sich Erwachsene und Kinder am Pool nackt gebalgt und auf den Mund geküsst hätten. Evelyne Pisier pflegte selber eine jahreslange Liaison mit dem kubanischen Autokraten Fidel Castro. Als sie von ihrem Sohn erfuhr, was Duhamel mit ihm trieb, hielt sie ihn zum Schweigen an.
Ihre eigene Schwester, die bekannte Schauspielerin Marie-France Pisier, zeitweise selber mit dem 68er Pädophilen Daniel Cohn-Bendit liiert, ertrug dieses Schweigen allerdings nicht. Sie erzählte in Saint-Germain-des-Prés herum, welcher „salaud“ (Schweinekerl) Duhamel sei. So erfuhren viele, was in der Ferienvilla von Sanary-sur-Mer passiert war.
Nach dem Tod von Marie-France Pisier im Jahr 2011 – sie wurde tot in ihrem Swimmingpool gefunden – berichteten andere Frauen weiter. Die ehemalige Kulturministerin Aurélie Filipetti informierte den Direktor von Sciences Po, Frédéric Mion, im Jahr 2019. Dieser vermag heute nicht einsichtig zu erklären, warum er Duhamel an seiner Seite beließ. Die sich häufenden Rücktrittsforderungen lehnt Mion aber ab. Ex-Kulturministerin Elisabeth Guigou, eine alte Bekannte Duhamels, hat hingegen unter dem öffentlichen Druck die Leitung einer nationalen Kommission gegen Inzest abgegeben.
Präsident Emmanuel Macron hat sich zur Duhamel-Affäre noch nicht geäußert. Seine Frau Brigitte forderte in einem Interview „härtere Gesetze“ wohl im Bereich der Verjährungsfristen. Duhamel ist heute nicht mehr belangbar. Seit der Aufgabe all seiner Ämter hat er sich nicht mehr zu Wort gemeldet.
#MetooInceste – Opfer teilen im Netz ihre Erfahrungen
Die Autorin und Verlegerin Vanessa Springora hatte bereits im vergangenen Jahr mit Vorwürfen gegen den gefeierten Schriftsteller Gabriel Matzneff Pädophilie in der Literatur- und Intellektuellenszene angeprangert. Der Schock saß tief, Aktivistinnen schrieben an Pariser Hauswände: „Vanessa, wir glauben dir.“ Doch nun haben Kouchners Enthüllungen die Wut zum Überkochen gebracht.
Die Verlegerin beschreibt darin, wie sie 1985 als damals 13-Jährige die Geliebte des fast 40 Jahre älteren und in Pariser Kreisen gefeierten Starautors wurde, der aus seinen pädophilen Obsessionen nie einen Hehl gemacht hat.
Es war bei einem Abendessen Mitte der 1980er Jahre, als Vanessa den kultivierten Literaten Gabriel Matzneff kennenlernte. In den Wochen darauf umwarb er sie mit sehnsuchtsvollen Briefen und romantischen Avancen. Die 13-Jährige war geschmeichelt, ja verliebt und willigte ein, seine Geliebte zu werden. Ihre alleinerziehende Mutter war zunächst schockiert, akzeptierte aber schließlich die Liaison.
Es ist beklemmend zu lesen, wie manipulativ Gabriel Matzneff vorging, welche Mechanismen er nutzte, um Vertrauen zu schaffen, welchen Strategien der Vertuschung er folgte. Vanessa Springoras Buch handelt nicht von einer sexuellen Verirrung, sondern von Herrschaft und Ausbeutung, von Tätern und Opfern, von Macht und Mitwisserschaft.
Noch mehr aber schockiert, wie verständnisvoll, ja zustimmend die Gesellschaft auf Matzneffs Pädophilie reagierte. Schon in den 70er Jahren hatte er Sex mit Minderjährigen programmatisch bekundet. 1974 erschien sein Essay „Les moins de seize ans“ (zu Deutsch „Die Unter-16-Jährigen“), in dem er seine Vorliebe auch anderen empfahl und sich zum „Wohltäter“ der Jugendlichen stilisierte.
Wie war es möglich, dass die Gesellschaft, die von seinen Neigungen wusste, sein auch schon damals als kriminell eingestuftes Verhalten tolerierte? Bereits in den 80er Jahren soll die Polizei Ermittlungen gegen ihn aufgenommen haben, die aber im Sande verliefen. Wieso? Stand der berühmte Schriftsteller unter besonderem Schutz?
Die Gesellschaft ließ ihn gewähren, weil ihn die Aura des Künstlers umgab. Noch 2013 erhielt er für seine Essayistik den prestigeträchtigen Renaudot-Literaturpreis.
„Es tut weh, als Heranwachsende zu merken, wie die Gesellschaft zum Komplizen des Täters wird. Genau das habe ich erlebt. Heute bin ich froh darüber, was das Buch bewegt hat. Das hilft mir, mich auch wieder mit der Gesellschaft zu versöhnen. Ich sehe, dass sich etwas verändert.“
Im Netz teilten zuletzt zahlreiche Opfer unter dem Schlagwort #MetooInceste ihre Missbrauchserfahrungen innerhalb ihrer Familien – berichteten von Schuldgefühlen und Machtlosigkeit.
Einer Schätzung des Umfrageinstituts Ipsos zufolge basierend auf einer Umfrage sind zehn Prozent der Menschen im Land Opfer von Inzest. Die Mehrheit der Opfer sind demnach Frauen. Die aktuellen Vorwürfe treffen bekannte Schauspieler genauso wie Politiker – und beschäftigen mittlerweile auch die Justiz.
Ein Gesetz in Frankreich ermöglicht Sex mit Minderjährigen unter gewissen Bedingungen
Im Fokus steht in der Debatte auch eine gesetzliche Regelung, die es möglich macht, dass Volljährige nach Sex mit Minderjährigen milde bestraft oder gar freigesprochen werden.
Das ist möglich, weil das Gesetz in Frankreich bei sexuellen Handlungen mit unter 15-Jährigen eine Zustimmung des Kindes als entlastenden Faktor berücksichtigt. Es obliegt den Gerichten zu beurteilen, ob der oder die Minderjährige in der Lage gewesen sei, in die sexuelle Beziehung einzuwilligen.
Das will Frankreichs Regierung nun ändern und ein sogenanntes Schutzalter einführen. Wer in Deutschland zum Beispiel einvernehmlichen Sex haben möchte, muss mindestens 14 Jahre alt sein.
Prominente fordern Gesetzesänderung
„Ein Akt der sexuellen Penetration, der von einem Erwachsenen an einem Minderjährigen unter 15 Jahren durchgeführt wird, wird als eine Vergewaltigung gewertet werden“, stellte Frankreichs Justizminister Eric Dupond-Moretti jüngst klar. Es gebe eine Wende in der Gesellschaft, das Gesetz müsse dahingehend geändert werden. Zuvor hatte Präsident Emmanuel Macron Druck gemacht.
„Nachdem die Opfer die Kraft und den Mut gefunden haben, die Augen der Gesellschaft weit zu öffnen, können Sie, die die Gesetze machen, nicht die Einzigen bleiben, die sie teilweise verschließen“, heißt es in einem offenen Brief an die Regierung, den etwa Sängerin Carla Bruni, Schauspielerin Juliette Binoche und Fußball-Nationaltrainer Didier Deschamps unterzeichnet haben.
Ihnen gehen die Versprechungen der Regierung nicht weit genug. „Wir können uns nicht mit Ihren kleinen Fortschritten zufrieden geben, dafür sind unsere Erwartungen viel zu hoch.“
Sexualisierte Gewalt auch an Elite-Hochschule Sciences Po
Doch der Aufschrei in Frankreich geht über das bisherige Tabuthema Inzest hinaus. Zuletzt berichteten Studentinnen von sexualisierter Gewalt an der Elite-Hochschule Sciences Po. Sie gilt im Land als „Hochschule der Macht“ – Macron gehört ebenso zu den Absolventen wie Topmanager der Wirtschaft.
Unter dem Hashtag #SciencesPorcs – ein Wortspiel mit dem französischen Wort für Schwein – porc – teilen sie ihre Erlebnisse. Die Studentinnen prangern sexistisches Verhalten und sexuelle Gewalt, einschließlich Vergewaltigung, an und werfen der Univerwaltung vor, die Täter – Studenten oder Professoren – zu schützen.
Bisherige Maßnahmen seien offenbar nicht ausreichend gewesen, reagierte nun etwa die Sciences Po in Straßburg. „In der Tat muss das Schweigen gebrochen werden und diese Tatsachen werden keineswegs auf die leichte Schulter genommen.“
Die Wut im Land – sie indes hält an.
Quelle: pravda-tv.com